Cover
Titel
Joachim Vadian. 1483/84–1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker


Autor(en)
Gamper, Rudolf; Krauer, Rezia; Müller, Clemens
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 48,00
URL
von
Frank Jehle

Am 28. Oktober 2017 war die Stadtkirche St. Laurenzen in St. Gallen gut besetzt. Rudolf Gampers Vadian-Biografie wurde festlich vorgestellt. Das bis dahin massgebende zweibändige Werk von Werner Näf Vadian und seine Stadt St. Gallen erschien 1944 und 1957. Trotz der Verdienste dieser monumentalen Publikation ist es heute überholt. In jahrelanger Arbeit hat Gamper die Vadian-Forschung nachgeführt. Als Verantwortlicher für die Vadianische Sammlung seit 1995 erwarb er sich umfassende Quellenkenntnisse. Das neue Buch wird ein Referenzwerk bleiben.

Vereinzelt gibt es auch kritische Stimmen. Der Journalist Rolf App schrieb im St. Galler Tagblatt, Gamper kenne die Materie «wie kein Zweiter». Er verstehe es aber nicht, das Leben dieser «äussert farbige[n] Figur, Machtpolitiker und Gelehrter zugleich», spannend zu erzählen. Immer wieder verliere er sich «in der Vielfalt der Themen». Er isoliere seinen Gegenstand zu sehr und bette ihn zu wenig in die Geschehnisse ein. «Denn», so Rolf App, «was sich da abgespielt hat, war ja Weltpolitik im Kleinen.»

Diese Kritik ist unzutreffend, hilft jedoch, die Absicht der Veröffentlichung besser zu erfassen. Im ersten Kapitel, in dem es um die bisherige Vadian-Forschung geht, referiert Gamper unter anderem über das seinerzeit erfolgreiche Buch Johannes Nincks von 1936 Arzt und Reformator: Vadian. Ein Charakterbild aus grosser Zeit nach den Quellen entworfen:

Es war eine populäre, flüssig geschriebene und reich mit Abbildungen ausgestattete Darstellung von Vadians Leben, aufgrund breiter Quellenkenntnis verfasst und mit vielen eingestreuten Zitaten aus Briefen und Werken in guten Übersetzungen abwechslungsreich gestaltet. Zu überzeugen vermochte sie dennoch nicht. Der erste Satz lautet: ‹Joachim von Watt gehört zu den grossen Führerpersönlichkeiten der Vergangenheit.› Von dieser Voraussetzung ausgehend verlieh Ninck seinem Helden strahlenden Glanz von der Studentenzeit in Wien bis in die späten Jahre in St. Gallen, indem er nach der Art historischer Romane seine Quellen selektiv auswertete, sie unkritisch interpretierte, Zwischentöne eliminierte und Vadians Bedeutung überhöhte; die erbauliche Komponente der Darstellung verdeckt immer wieder die historischen Zusammenhänge. (S. 15.) höhte; die erbauliche Komponente der Darstellung verdeckt immer wieder die historischen Zusammenhänge. (S. 15.)

Gamper zeigt hier präzis, dass es ihm in seiner eigenen Arbeit nicht um Heldenverehrung geht. Eine Wendung wie «grosse Führerpersönlichkeit» (und dies im Jahr 1936!) liegt ihm nicht. Vadian ist für ihn bei aller Wertschätzung keine Lichtgestalt und muss sich auch Kritik gefallen lassen. Das hier anzuzeigende Buch ist kein historischer Roman. Es fehlt nicht an Zwischentönen. Gamper will nicht erbauen, sondern informieren. Immer wieder gibt es Stellen, an denen er trocken feststellt, dieses oder jenes wisse man eben nicht; da keine glaubwürdigen Quellen zur Verfügung stünden, müsse eine Frage offenbleiben.

Gampers langjährige Praxis als wissenschaftlicher Bibliothekar ist sein grosser Vorteil. Um ein Dokument datieren zu können, analysierte er das Papier und studierte die Wasserzeichen. Eine seiner Stärken besteht darin, dass er bei den von ihm herangezogenen alten Büchern nicht nur deren Inhalt auswertet, sondern auch, was deren Leser von Hand am Rand oder zwischen den Zeilen hineingeschrieben haben – eine relativ neue Methode.

Beispielhaft ist, wie Gamper mit der zweisprachigen (griechisch und lateinisch) Neuausgabe des Neuen Testaments des Erasmus umgeht. Die epochemachende Publikation erschien 1516 in Basel, in zweiter Auflage 1519. Vadian hat diese sogleich angeschafft. Seltsamerweise ist der erste Band mit dem eigentlichen Bibeltext (beim zweiten Band handelt es sich um einen Kommentar) von den St. Gallern verkauft worden (wohl im 19. Jahrhundert) und befindet sich heute in Leipzig. Gamper zeigt, wie viel dieser Band von der beginnenden Reformation in St. Gallen verrät. Der grosszügige Vadian liess auch andere in den kostspieligen Büchern lesen. Der gelehrte Dominik Zili – zunächst Schulmeister der Stadt, später Pfarrer an St. Laurenzen – versah sie ebenfalls mit Annotationen.

Deren genaue Analyse zeigt, dass Vadian und seine Freunde nicht alle Teile des Neuen Testaments gleich sorgfältig lasen. Da dort keine handschriftlichen Anmerkungen vorkommen, darf man annehmen, dass sie sich nicht für die Johannesoffenbarung interessierten. Sie waren keine Apokalyptiker und hielten es wie Luther, Zwingli und Calvin, die das letzte Buch der Bibel ebenfalls auf die Seite schoben. Das Studium des Apostels Paulus und in erster Linie seines Römerbriefs stand für sie im Zentrum – wie es sich auch bei Luther verhielt: In einem späten Rückblick bekennt dieser, sein reformatorischer Durchbruch sei erfolgt, als er eine Vorlesung über den Römerbrief hielt. Hier habe er den zentralen Satz gefunden: «So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.» (Röm 3,28)

Analog ist es bei Zwingli: Kaum war das Neue Testament des Erasmus erhältlich, lieh er es sich aus. Sein Gehalt war noch zu klein, als dass er es hätte kaufen können. Die Briefe des Apostels Paulus und besonders den Römerbrief schrieb er jedoch eigenhändig ab und lernte einen grossen Teil davon auf Griechisch auswendig. So wichtig waren sie ihm. – Und damit zurück zu Vadian: Gamper kann anhand der handschriftlichen Einträge nachweisen, dass dieser und seine Freunde den Römerbrief gemeinsam intensiv durcharbeiteten – und dies lange, bevor ein von aussen wahrnehmbares Reformationsgeschehen in St. Gallen anfing.

Die Qualität des hier anzuzeigenden und nicht genug zu empfehlenden Buchs besteht in seiner Nüchternheit. Vadian verliert bei dieser Darstellungsweise nichts. Deutlicher als in früheren Darstellungen wird sein fruchtbares Wirken als Humanist in Wien, wo er es bis zum Universitätsrektor brachte. Zurück in St. Gallen, wo er bald hohe politische Ämter übernahm (achtmal war er Bürgermeister), wirkte er bei der Einführung der Reformation als Teamplayer. Seine überdurchschnittlich hohen theologischen Kenntnisse stellte er den St. Galler Pfarrern und anderen selbstlos zur Verfügung. Aus heutiger Sicht ist schade, dass er sich mit seiner Auffassung nicht durchsetzen konnte, wonach die Unterschiede in der Abendmahlslehre zwischen Lutheranern und Reformierten nicht kirchentrennend sind. Anders als das mächtige Zürich und das noch mächtigere Bern (die den Lutheranern um keinen Deut nachgeben wollten) hätte Vadian 1536 die so genannte «Wittenberger Konkordie» unterschrieben. Es hätte dies die konfessionelle Landkarte in Europa stark verändert. (Erst 1973 – mehr als 400 Jahre später – wurde der innerprotestantische Friedensschluss in der jetzt so genannten «Leuenberger Konkordie» nachgeholt.)

Ein Letztes: Rudolf Gamper zeigt, dass Vadian als Historiker – seine Chroniken sind von bleibender Bedeutung – Weiterführendes erarbeiten konnte, weil er mit den Quellen mit äusserster Exaktheit umging und weil er nicht bloss «Zustände», sondern «Entwicklungen» beschrieb. In dieser Hinsicht war er «modern». – Wer die Vadian-Biografie Gampers liest, wird bereichert.

Zitierweise:
Frank Jehle: Rezension zu: Rudolf Gamper, Joachim Vadian: 1483/84–1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker, Zürich: Chronos, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 562-564.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 562-564.

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